Hätte, hätte, Lieferkette – Herausforderungen und Chancen für die Industrie 2023

Industrielle Lieferketten sind in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Sie sind nicht nur weltweit verflochten und komplex, sondern sie haben sich durch externe Schocks wie den Brexit, die Corona-Pandemie oder den russischen Angriff auf die Ukraine auch als störanfällig erwiesen. Hinzu kommt, dass Unternehmen am Ende der Kette oft wenig Einblick in die einzelnen vorgelagerten Glieder nahmen. Dies ändert sich derzeit rapide, sowohl aufgrund von gesetzlichen Vorgaben als auch unter dem Eindruck der aktuellen Krisen und ihrer Konsequenzen.
Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – was steckt dahinter?
Am 1. Januar 2023 tritt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in Kraft. Das Gesetz zielt auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz entlang der Lieferketten von Unternehmen ab. CSR, das heißt Corporate Social Responsibility, oder ESG-Kriterien, das heißt Environment, Social und Governance (deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung), nehmen eine wichtige Rolle in Industrieunternehmen ein, auch entlang der Lieferkette.
Das LkSG zielt darauf ab, die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte gemäß des Koalitionsvertrages verbindlich umzusetzen. Kurzum: Unternehmen ab 3.000 Mitarbeitenden sind ab dem 1. Januar 2023 verpflichtet, die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutzstandards innerhalb ihrer Lieferketten sicherzustellen. Ab dem 1. Januar 2024 gilt das Gesetz auch für Unternehmen mit über 1.000 Mitarbeitenden. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle überwacht die Umsetzung des Gesetzes. Darüber hinaus haben nun Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften die Möglichkeit, vor deutschen Gerichten bei Nichteinhalten des gesetzlichen Rahmens – sofern die Betroffenen zustimmen – zu klagen. Denn bisher konnten nur Geschädigte selbst klagen. In der Praxis kam das mangels finanzieller und personeller Ressourcen so gut wie nie vor.
Hersteller – Lieferant – Sublieferant – Sub-Sublieferant: Die Herausforderungen ethischer Lieferketten.

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Im Zuge der Globalisierung haben Industrieunternehmen ihre Lieferketten stetig internationalisiert. Dabei ist oft nicht klar nachvollziehbar, wie die Menschenrechtslage und Umweltstandards entlang der Lieferkette tatsächlich aussehen. Das LkSG verpflichtet Unternehmen ab einer bestimmten Größe nun, genauer hinzusehen. Das birgt eine Vielzahl an Herausforderungen, wie einen hohen bürokratischen Aufwand, erhöhte Kosten, Haftungsrisiken oder Rechtsunsicherheiten für die Unternehmen. Das Gesetz kommt nicht von ungefähr: Mediale Aufmerksamkeit haben erst kürzlich Vorwürfe gegen den Möbelhersteller Ikea erlangt. Das Unternehmen soll Möbel in Belarus produziert haben, die durch Zwangsarbeit von Gefangenen entstanden sind.[1] Oft ist für Unternehmen nicht klar, wie die Bedingungen vor Ort tatsächlich aussehen. Ein Unternehmen, das in Deutschland ein Bauteil herstellt, aber Komponenten dafür aus verschiedenen Teilen der Welt bezieht, muss sich unter Umständen auf die Aussagen und vertraglichen Vereinbarungen der Partner vor Ort verlassen. Intransparente Lieferketten sind aufgrund geringer Kontrollmöglichkeiten keine Seltenheit. Automobilhersteller – Lieferant – Sublieferant – Sub-Sublieferant – Lieferketten sind verzweigt und komplex. Digitalisierung kann Abhilfe verschaffen. So nutzt die Mercedes-Benz Group AG beispielsweise die Blockchain-Technologie, die digitale Datensätze durch Codierungen verbindet, um die Lieferkette transparenter zu gestalten[2]. Ethische Lieferketten aufzubauen, gleicht eher einem Marathon als einem Sprint. Industrieunternehmen sind aufgefordert, die einzelnen Glieder der Lieferkette sorgfältig zu überprüfen und möglichen Verletzungen von Menschrechten oder Umweltstandards nachzugehen. Der Einsatz digitaler Technologien kann dabei unterstützen.
Diversifizierung: Ein Ausweg aus der Abhängigkeit?

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Lieferketten sind anfällig – kommt es an einem Glied zu einer Störung, kann das Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette haben. Denken wir an die MS Ever Given, die 2021 wochenlang den Suezkanal für sich und viele andere Containerschiffe blockierte,[3] oder Hafensperrungen in China, weil Hafenarbeitende coronabedingt ausfielen.[4] Ebenso mussten deutsche Automobilhersteller 2022 ihre Produktion stoppen, weil Kabelbäume aus der Ukraine fehlten.[5] Inzwischen stocken Industrieunternehmen unter anderem ihre Lager auf. Laut einer Umfrage des Münchner ifo-Instituts haben 68 Prozent Lager vergrößert, um Lieferkettenunterbrechungen zu vermeiden[6]. Gestörte Lieferketten sind seit Beginn der Pandemie eine große Herausforderung für die Industrie. Die vorher effiziente Just-in-Time-Produktion ist auf reibungslose Abläufe angewiesen – kommt ein Teil nicht rechtzeitig oder gar nicht, stehen die Bänder still. Durch die Krisen hat sich diese Art der Produktion als anfällig erwiesen, Materialengpässe und Lieferschwierigkeiten lassen im Zweifel Fließbänder in Fabriken stillstehen. Diversifizierung ist das Schlagwort der Stunde, wenn es um die Stabilisierung von Lieferketten geht. Beziehen Industrieunternehmen Rohstoffe oder Energie aus verschiedenen Quellen und möglichst nicht nur einer Region, kann sich die Wahrscheinlichkeit funktionierender Lieferketten erhöhen. Allerdings sind neue Abhängigkeiten die Folge. Die richtige Lösung zu finden, ist schwierig.
Offshoring, Reshoring oder Nearshoring: Was ist die beste Lösung?

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Die Krisen häufen sich, so auch die Störungen in den Lieferketten. Vermehrt fallen Begriffe wie Reshoring, das heißt die Rückverlagerung der Produktionsstätten ins eigene Land, oder Nearshoring, also die Verlagerung von Produktionsstätten in die geografische Nähe. Nach Jahren des kostengünstigen Offshorings, sprich der Verlagerung der Produktion ins mitunter weit entfernte Ausland, klingt die Option, im eigenen Land oder zumindest in der Nähe zu produzieren, angesichts der aktuellen Krisen erst einmal verlockend. Da die deutsche Industrie aber Rohstoffe und Vorprodukte aus allen Kontinenten bezieht und ihrerseits auch auf weltweite Märkte exportiert, wird es hier keine einfache Lösung geben.
Ausblick

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Laut AHK World Business Outlook aus dem Herbst 2022 werden die deutschen Exporte 2023 wegen der belasteten Weltkonjunktur durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und Lieferkettenproblemen sinken.[7] Die Grundlage des AHK World Business Outlook ist eine Prognose, die aus einer Umfrage der Auslandshandelskammern (AHK) unter mehr als 3.100 deutschen Unternehmen im Ausland hervorging. Danach sind Überlegungen wie Reshoring, Nearshoring und Diversifizierung verstärkt in den Mittelpunkt der Unternehmensstrategien gerückt. Unabhängig davon, wie sie ihre Strategie ausrichten: Industrieunternehmen sind aufgefordert, ihre Lieferketten in Hinblick auf Menschenrechte und Umweltschutz zu prüfen.

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Aktuell treffen viele Krisen aufeinander – Corona, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Energie- und die Klimakrise. Darüber hinaus dürfen nationale und lokale Krisenherde nicht in Vergessenheit geraten. Globale Lieferketten sind zwangsläufig von ebendiesen globalen, nationalen und lokalen Krisen betroffen. Den Blick von Beginn an auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutzstandards zu richten, verhilft den Industrieunternehmen unter Umständen auch dazu, resilientere Lieferketten zu schaffen. Neben dem deutschen Lieferkettengesetz werden auch auf EU-Ebene gesetzliche Regelungen diskutiert. Die EU-Kommission veröffentlichte Ende Februar 2022 einen Vorschlag für eine europäische Lieferkettenrichtlinie.[8]
Was können regionale Industrieinitiativen tun? Einerseits ihre Mitglieder über das neue Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz informieren. Menschenrechte und Umweltschutz sind aber nicht nur relevant für Unternehmen mit über 3.000 Mitarbeitenden. Auch Informations- und Vernetzungsveranstaltungen für Unternehmen unter dieser Schwelle sind unerlässlich. KMU verfügen unter Umständen über geringere finanzielle und personelle Ressourcen als große Unternehmen. Daher ist es wichtig, ihnen Hilfestellungen an die Hand zu geben. Ein großer Vorteil: Resiliente und nachhaltige Lieferketten können letztendlich auch zur Stärkung der Industrieakzeptanz beitragen.