Zeitenwende: Wie Manufacturing X die Produktion revolutionieren könnte
Industrie-Quiz gefällig? Nicht selten hinterlassen neue Begriffe wie Industrie 4.0, Logistik 4.0 und Manufacturing X Fragezeichen in den Köpfen der Allgemeinheit. Tatsächlich adressieren diese Begriffe aber nichts weniger als eine branchenübergreifende industrielle Revolution bisher unbekannten Ausmaßes. Daher lohnt es sich, sie zu verstehen.
Während es sich bei Industrie 4.0 um einen Überbegriff handelt, der die Digitalisierung der industriellen Produktion im Allgemeinen meint, ist Logistik 4.0 eine Unterkategorie und bezieht sich speziell auf die Verzahnung aller an der Lieferkette beteiligten Einheiten durch Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Ziel, die Produktion effizienter zu gestalten.[1] Doch was wird dafür benötigt? Daten, Bingo!
Goldgräberstimmung durch industrielle Datenpools
Daten sind einer der kostbarsten Rohstoffe des 21. Jahrhunderts – auch und insbesondere für die industrielle Produktion. Mammutaufgaben wie die Umstellung auf Industrie 4.0 und Logistik 4.0 können nur gelingen, wenn das „wie“ der Datennutzung geklärt ist, es also eine konkrete softwarebasierte Umsetzung gibt. Um Daten gewinnbringend nutzen zu können, müssen sie verlässlich gesammelt, stets erneuert und sicher gespeichert werden. Hier gibt es verschiedene Ansätze, für Datenbanken, die von Unternehmen gemeinsam befüllt, geteilt und genutzt werden. Während „Gaia X[2]“ eine branchenübergreifende Ambition hegt, konzentriert sich „Catena X[3]“ nur auf die Automobilindustrie. In die Serie der Begriffe mit X reiht sich nun auch „Manufacturing X“ ein, das neue Modewort im Industrie-Jargon. Werfen wir also einen Blick hinter die Kulissen der Initiative zu „Manufacturing X“, um die es unter anderem auch während der Hannover Messe[4] im April 2023 gehen wird.
Nicht so kryptisch wie es klingt – was verbirgt sich hinter Manufacturing X?
Die in der Digitalstrategie der Bundesregierung[5] aufgeführte Initiative „Manufacturing X“ fokussiert sich – wie der Name schon anklingen lässt – auf das produzierende Gewerbe, und zwar entlang der kompletten Lieferkette. Dahinter steht die Idee, durch ein gemeinschaftliches Sammeln von Daten und das Digitalisieren der einzelnen Prozesse innerhalb der Wertschöpfungskette Vorteile für den deutschen bzw. den europäischen Wirtschaftsraum zu erzielen. Im Wesentlichen geht es darum, bisherige Dateninseln zu einem großen Datenraum zu harmonisieren. Dieser Datenraum basiert auf gegenseitigem Vertrauen und offenen Standards und ermöglicht den Unternehmen digitale Souveränität von der Lieferkette bis in die Produktion. Die Initiative wird sowohl vom Bundeswirtschaftsministerium als auch von den großen Branchenverbänden sowie der Wissenschaft gestützt.
Doch warum stehen das produzierende Gewerbe und vor allem die Ausrüsterindustrie im Mittelpunkt der Initiative? Im Jahr 2022 betrug der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung 23,5 Prozent.[6] Wir sprechen hier also von der gesamten Bandbreite der Produktion. Das produzierende Gewerbe selbst wird wiederum von der Ausrüsterindustrie gestützt, die die Maschinen- und Fabrikausrüstung zur Verfügung stellt. Gerade weil in diesem Bereich besonders viele Automations- und Softwarelösungen zum Tragen kommen, ist dies der Hebel für eine breitenwirksame digitale Mobilisierung in alle Wirtschaftszweige hinein[7].
Daten sammeln, aber wozu?
Die weltweite Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die Herausforderungen des Klimawandels verstärken den Handlungsdruck auf die digitale und ökologische Transformation der gesamten deutschen Industrie.[8] Das Ziel des gemeinsamen Datenpools, also Manufacturing X, ist es daher, die Industrie sowohl resilienter, wettbewerbsfähiger, als auch nachhaltiger zu machen. Doch wie hängt das miteinander zusammen?
- Auf externe oder interne Störungen in der Lieferkette kann man besser reagieren, wenn die benötigten Einzelteile oder Grundstoffe und die beteiligten Akteure transparent aufgelistet sind.
- Der Zugriff auf Daten unterschiedlicher Akteure ermöglicht Wettbewerbsvorteile, weil Unternehmen so präziser auf Marktbedürfnisse reagieren können.
- Durch das genaue Nachvollziehen der Wertschöpfungskette können Optimierungen erfolgen, auch im Hinblick auf eine nachhaltigere Produktion. Wenn der Carbon-Footprint von Vorprodukten beispielsweise bereits im System gespeichert ist, kann man die gesamte CO2 -Bilanz des Produktes nachvollziehen und an genau der Stelle gezielt ansetzen, wo das größte Einsparpotenzial anfällt. Manufacturing X könnte daher auch vor dem Hintergrund aktueller Bemühungen, die Kreislaufwirtschaft zu etablieren, interessant werden.
Gleichzeitig soll aber die Souveränität der Unternehmen gewahrt bleiben, indem die Plattform nicht zentral durch einen profitorientierten externen Dritten betrieben wird.
Politischer Rückenwind für die neue Datenökonomie
Das Bundeswirtschaftsministerium unterstützt die Zeitenwende in der Produktion ausdrücklich. Eine offizielle Schätzung über das Volumen der finanziellen Unterstützung gibt es noch nicht, der VDI-Verlag geht aber von einer Anschubfinanzierung von 150 Millionen Euro aus.[9] Auch die Europäische Union wirbt dafür, das Teilen von Daten zu vereinfachen. Der im Februar 2022 von der Europäischen Kommission vorgeschlagene „European Data Act[10]“ sieht Regularien vor, die die Datennutzung für Unternehmen und Individuen erleichtern und in der Folge den europäischen Markt sicherer, effizienter und wettbewerbsfähiger machen sollen.
Alle sitzen in einem Boot – auch der Mittelstand könnte profitieren
Zwar wird die Initiative Manufacturing X von den Großunternehmen vorangetrieben. Tatsächlich betrifft sie aber auch den Mittelstand, bei dem die Produktkompetenz aktuell vor allem liegt. Das digitale Tracking von Lieferketten könnte den Mittelstand entlasten und Ressourcen einsparen, wenn es richtig genutzt wird. Durch den Überblick über den Markt könnten Nischen künftig besser genutzt und die Kundenzentriertheit durch passgenauere Produkte erhöht werden.
Das Haar in der Suppe – woran könnte es haken?
Manufacturing X steht und fällt mit der Bereitschaft zum Teilen von Daten. Nur wenn der Nutzen klar kommuniziert wird, kann der gemeinsame Datenraum seine volle Kraft entfalten. Hierbei sind noch einige Fragen ungeklärt. Wie kann man Rechtssicherheit garantieren? Welche Kosten kommen auf die beteiligten Unternehmen für etwaige Lizenzen zu? Wie kann man die Sicherheit des Datenraumes gewährleisten?
Bei der Initiative geht es um die Meta-Frage, wie wir in Zukunft wirtschaften wollen und welche Rolle die deutsche Industrie dabei spielen will. Eines ist jedenfalls sicher: Um eine globale Vorreiterrolle einzunehmen, muss die Digitalisierung der Industrie mit allen Marktbeteiligten umgesetzt werden. Manufacturing X könnte sich künftig als Werkzeug der digitalen Zeitenwende der Produktion erweisen. Der „Enter-Button“ ist jedenfalls schon gedrückt.